Übersicht aller 36 Geone

Wie wir Objekte erkennen: Geone

Lesedauer 3 Minuten

Die menschliche Wahrnehmung ist ein wichtiges Thema bei der Gestaltung von Oberflächen. Schließlich sollen die Benutzer:innen bei der Interaktion auch erkennen, was sie auf dem Bildschirm sehen.

Es gibt viele Theorien, die sich damit beschäftigen, wie wir Objekte sehen und erkennen. Eine frühe Theorie besagt, dass unsere Gehirne eine gigantische Datenbank haben, in der Millionen unterschiedliche Objekte gespeichert sind. Diese Datenbank würde dann nach Treffern durchsucht, wenn wir etwas sehen.

Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen besagen aber, dass wir grundsätzliche geometrische Formen (geometric icons oder geons, dt. “Geone”) nutzen, um Objekte zu identifizieren, die unsere Augen wahrnehmen.

Der Visuelle Cortex ist bei reiner Vorstellung aktiver

Die Sehrinde im Gehirn, auch visueller Cortex genannt, ist bei der Vorstellung eines Objektes aktiver, als wenn wir es wirklich sehen (siehe hierzu: “Cognitive Psychology” von R.L. Solso). Die Aktivitäten geschehen in demselben Bereich, ist aber deutlich stärker, wenn wir uns etwas vorstellen.
Die Theorie dazu besagt, dass das Gehirn, und speziell der visuelle Cortex, stärker arbeiten muss, weil er nicht direkt durch die Wahrnehmung der Augen stimuliert wird.

Menschen erkennen Formen

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Kinder Objekte immer wieder erkennen auch wenn sie eine ganz unterschiedliche Ausprägung haben? Ich denke hier beispielsweise an Tassen. Sobald ein Kind eine Tasse erkannt hat, erkennt es auch andere Tassen, auch wenn sie eine andere Größe, Farbe und ggf. sogar eine andere Form haben. Noch viel besser fällt das Phänomen bei Tieren auf: Kinder können ganz hervorragend zwischen Hunden und Katzen unterscheiden, auch wenn sie spezielle Rassen noch nie zuvor gesehen haben. Wie geht das?

Eine Antwort darauf liefert Irving Biederman. Sobald wir ein Objekt sehen, abstrahieren wir es. Genau das passiert bei einer Tasse: eine Tasse ist ein oben geöffneter Zylinder mit einem halben Torus (Rettungsring, Donut) an einer Seite. Einige Beispiele, die wir als Tasse erkennen sind in folgendem Bild zu sehen.

Darstellung von Tassen unterschiedlicher Farben, Rotation und Form

Noch etwas anderes fällt dabei auf. Die Art und Weise wie wir die Objekte sehen, abstrahieren und erkennen ähnelt der wie wir sie beschreiben. Noch bevor Sie das Bild mit den unterschiedlichen Tassen angesehen haben, hatten Sie eine sehr genaue Vorstellung davon, was ich unter einer Tasse verstehe. Sie brauchten das Bild nicht. Sie hatten bereits eines im Kopf. Das Bild ist nur dazu da, meine Gedanken zu visualisieren, damit Sie sie damit abgleichen können.

Was bedeutet das also für unsere Wahrnehmung?

Wir alle zerlegen ein Objekt in seine fundamentalen Einzelteile, wenn wir es sehen. Danach analysieren wir, in welchem Zusammenhang die Einzelteile zueinander stehen. Basierend auf diesen Informationen klassifizieren wir ein Objekt. Genau dies postulierte Irving Biederman bereits im Jahre 1987. Die Einzelteile, in die wir das Gesehene zerlegen, nennt er Geone.

Geone

Diese fundamentalen Einzelteile, in die wir alles zerteilen, was wir sehen, werden durch vier Attribute gekennzeichnet:

  1. Beschaffenheit der Kanten (eckig, rund)
  2. Symmetrie (punktsymmetrisch, achsensymmetrisch, unsymmetrisch)
  3. Größe (konstant, wachsend, wachsend und schrumpfend)
  4. Ausrichtung (gerade, gekrümmt)

Das Titelbild zeigt die sich daraus ergebenden 36 (=2*3*3*2) Geone (geometric icons). Mithilfe dieser elementaren Bausteine unserer Wahrnehmung analysieren und erkennen wir die Objekte in unserer Umwelt.

Besonders wichtig ist dabei, neben dem eigentlichen Zerlegen eines Objektes in seine Geone, die Beziehung der Geone untereinander. Die nebenstehende Grafik visualisiert das.

Gleiche Geone können, wenn sie in unterschiedlicher Beziehung zueinander stehen, unterschiedliche Objekte erzeugen. So besteht sowohl eine Tasse (blau), als auch ein Eimer (grün) jeweils aus einem Zylinder und einem Halbring. Genauso verhält es sich mit dem Kopf eines Clowns (gelb) und einer Eiswaffel (rot); sie bestehen jeweils aus einer Kugel und einem Konus.

Durch die Kombination zweier Geone entstehen eine Tasse, ein Eimer, ein Kopf mit Partyhut und eine Eiswaffel

Bedeutung

Eingangs beschrieb ich schon, dass es bei der Gestaltung von Bedienoberflächen immer nützlich ist, wenn man die Wahrnehmung der Benutzer:innen versteht.

Doch worin genau besteht der praktische Nutzen?

Ganz davon abgesehen, dass wir mit einem Verständnis über Geone uns unsere eigene Wahrnehmung deutlich bewusster machen können, sind Geone nützlich, um dreidimensionale Objekte schnell und einfach zu skizzieren.

Doch auch bei der Erstellung von zweidimensionalen Abbildungen können Geone helfen. Zwar sind nicht alle Geone im zweidimensionalen Raum darstellbar, doch sind sie in der Ikonografie sehr nützlich. Sieht man sich einmal die Icons bekannter Icon-Bibliotheken (Material Icons, Font Awesome, Bootstrap, …) genauer an, so kann man erkennen, dass viele der allgemein gebräuchlichen Icons aus ganz einfachen Grundkonstrukten bestehen. Einige Beispiele dafür sind im Folgenden abgebildet.

Fazit

Biederman beschreibt Geone als eine Art “Alphabet zur Beschreibung von Objekten” (Wentura/Frings, 2013, S.67). Aus diesen “Buchstaben” lassen sich so komplexeste Objekte erzeugen.

Umgekehrt nutzen wir in der Wahrnehmung den komplett engtegengesetzten Prozess. Wir zerlegen ein Objekt in seine Bestandteile (in die einzelnen Buchstaben) und erkennen daraus ein Objekt.

Mir persönlich gefällt die Analogie zum Alphabet sehr gut. Zum einen lässt sich dadurch erahnen, welch komplexe Prozesse in unserem Gehirn ablaufen, um auch nur simpelste Objekte wie Tassen oder Eimer voneinander zu unterscheiden. Zum anderen kann die Analogie zwischen geschriebener und visueller Darstellung von Objekten uns helfen, um bspw. Webseiten und Applikationen inklusiv zu gestalten.

Zusätzlich habe ich noch einiges über das wundervolle Tool Blender gelernt, mit dem ich die 3D-Grafiken in diesem Eintrag erstellt habe.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Wie wir Objekte erkennen: Geone“

  1. […] In den 1920er Jahren entwickelte sich in der Psychologie die Gestaltpsychologie. Diese Richtung beschäftigt sich ganz allgemein mit der menschlichen Wahrnehmung. Konkreter wird dabei untersucht, wie Objekte und Strukturen erkannt und verarbeitet werden. In dieser Fragestellung ähneln die Theorien der Gestaltpsychologie denen der Geone. […]

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